Haltung entscheidet - mit Werten bewusst führen

Im GESUND FÜHREN - DER LEADERSHIP PODCAST erläutert Martin Permantier unsere Arbeit. Das Transkript zum Nachlesen.

Im Juli 2022 war ich (MP) zu Gast bei Tanja Rosenbaum (TR), Host von GESUND FÜHREN - DER LEADERSHIP PODCAST. Nachzuhören ist die Folge hier.
Weil das ein ganz besonderes Interview für mich war, hier das Transkript zum Nachlesen.

 

TR: Herzlich willkommen zu einer neuen Podcast-Folge - heute mit Martin Permantier. Martin, ich habe dich eingeladen, weil ich über all das, was du zu Werten machst, gestolpert bin. Ich finde das ganz spannend, weil es mir tatsächlich in meiner Arbeit ein bisschen hilft. Du bist Unternehmer, du bist Keynote-Speaker, du bist Autor, du bist Geschäftsführer einer eigenen GmbH. Bei deinen vielen Rollen können wir uns vielleicht darauf einigen: Dein Wissen, was du jetzt hier so preisgibst, ist eigentlich das, was du mit deiner GmbH auch weitergibst, oder?

MP: Genau. Hallo Tanja. Wir sind eine Agentur in Berlin mit knapp 30 Leuten und unterstützen Unternehmen bei Design, Strategie und Kulturentwicklung. Und dazu gehören als zwei zentrale Punkte die Haltung und die Werte.

TR: Ich werde oft gefragt: „Haltung, ist das etwas, was man sich anklebt, was man irgendwie definiert? Ist das nicht etwas, was so natürlich von sich aus kommt? Oder muss ich da irgendwie rumschleichen?“ Vielleicht kann ich die Frage gleich an dich weitergeben.

MP: Das ist ja ähnlich wie mit den Werten. Manchmal sagt man: „Werte besitze ich“, als wären das Immobilien. Ähnlich ist es mit der Haltung. „Man hat sie oder man hat sie nicht.“ Das sehe ich ein bisschen anders. Schaut man in den Duden, umfasst Haltung drei Aspekte. Die Art und Weise, wie ich denke, wie ich eigentlich mit den Phänomenen, die mir im Leben begegnen, umgehe, die Art, wie du dich verhältst, und deine innere Befasstheit. Das sind drei Qualitäten, sozusagen dein Kopf, dein Herz und dein Dasein. Und das zusammen macht deine Haltung aus. An sich ist es ein ganz besonderes Wort, das es in anderen Sprachen nicht gibt. Mindset, Attitude, Postura oder wie immer man das in anderen Sprachen nennt, das ist noch nicht so gesamtheitlich. Und Haltung ist im entwicklungspsychologischen Sinne etwas, was sich verändert. Als Kind hast du ja keine Haltung. Du kommst auf die Welt, denkst dir: „Was ist denn hier los?“ Und irgendwann wird die gesagt: „So und so läuft das hier, das ist richtig, das ist falsch.“ Und du denkst dir: „Okay, dann machen wir das so.“ Und irgendwann wirst du dir ja deiner Gedanken und Gefühle bewusster und veränderst deine Haltung zum Leben in dem Sinne, wie du auf Phänomene schaust und sie auch deutest. Was ist ein gutes Leben? Was ist Erfolg? Was sind Regeln? Was ist die Rolle von Mann und Frau? Die Haltung dazu verändert sich mit deiner Reifung als Mensch. Das ist eine Dimension, die wir dazu genommen haben in unseren Entwicklungsprozessen. Weil wir gesehen haben: Die Werte sind das eine, aber mit welcher Haltung du sie lebst, das ist noch mal eine andere Dimension. 

TR: Über die Werte sprechen wir ja nicht unbedingt jeden Tag. Oder manchmal sehr oft, in bestimmten Kreisen, aber da ist es so, dass man das Gefühl hat, das würde so herangezogen als, ich will jetzt nicht sagen Schutzschild, aber so als: „Das ist meine Position, weil ich diesen Wert vertrete.“ Aber es ist so wenig das, was uns im Alltag bewusst ist. Wie ergeht es dir da? Das ist jetzt wahrscheinlich dein tägliches Ding, wenn du mit Leuten in den Erstkontakt trittst und über Werte sprechen möchtest: Sind die sich dann schon ihrer Werte bewusst?

TR: Wenn du einfach so fragst: „Was sind Ihre Werte?“, dann nenne die Menschen irgendwas Appelliges, von dem sie glauben, dass man das haben muss. Aber wenn du dich wirklich beobachtest, wirst du merken, dass dein Handeln in unterschiedlichen Situationen von ganz unterschiedlichen Werthaltungen definiert und geprägt ist. Wenn du Werte zu Verben machst, wird es interessant. Anstatt zu sagen: „Innovation ist unser Wert“, zu sagen: „Ich bin innovativ. Und zwar heute so und morgen so und gestern war ich so.“ Wenn du die Werte rauskriegen willst, ist eine ganz gute Methode jemanden zu fragen: „Wer war in deiner Jugend oder beginnendem Berufsleben ein Vorbild für dich, ein Mentor? Wen hast du besonders geschätzt?“ Und dann kommen Geschichten. Und die Geschichten beinhalten fast immer, wie sie gesehen wurden, dass jemand gesagt hat: „Okay, ich sehe dich in deinem Potenzial.“ Und welche emotionale Gemeinsamkeit du mit dieser Person hattest: „Der war fair. Der war gerecht. Der hat mir geholfen und hat mich gesehen, so wie ich werden kann.“ Dann kommen solche Aussagen. Und daran erkennst du ganz oft: „Ah, ja, guck mal, das ist deine Werthaltung.“ Ein anderer würde sagen: „Der war ganz ruhig, der hat immer ganz freundlich geführt und alle ausreden lassen.“ Und dann wirst du merken: „Ah, ja, okay. Das resoniert bei dir.“ Das sind deine Werte. Wo du emotionale Kongruenz hast, wo du die emotionale Gemeinsamkeit spürst, die in deinem Befinden sagt: „So ist schön, so ist richtig. Das sind meine Werte, das ist wertvoll für mich. Das hat für mich einen Wert.“ Das ist nämlich eine Dimension, wo du weniger moralisch draufguckst, sondern mehr so aus deiner eigenen Verhaltensdimension. Wie verhalte ich mich, welchen Dingen gebe ich Wert?

TR: Das bedeutet, dass du im Zweifelsfall in deinem Unterbewusstsein Werte hast, die deinem Bewusstsein überhaupt nicht klar sind. Du würdest vielleicht Werte angeben, die du schick und irgendwie attraktiv findest, wenn du drüber sprichst. Aber die nichts mit deinem eigentlicher Leben oder deinem eigentlichen Handeln zu tun haben.

MP: Ja, natürlich. So laufen ja die meisten Werteprozesse ab. Da stehen Leute vor Wörtern, dann werden welche ausgewählt und sie sagen: „Leistung ist total wichtig.“ „Bei uns Qualität, Kundenorientierung.“ Dann werden diese ganzen Hygienewerte an die Wand gepinnt. Die meisten Firmen haben irgendwie fünf oder acht Werte, und die sind solcher Natur. Weil sie denken, die müssten sie haben. Und weil sie über den semantischen Raum und denken: „Ja, was hört sich denn gut an? Ja, Nachhaltigkeit muss man haben und so.“ Und wenn du dann fragst: „Was ist Erfolg?“, und dann soll jeder den Satz vervollständigen, dann kommen sie zu vollkommen unterschiedlichen Ergebnissen. Die eine sagt: „Erfolg ist, wenn wir die Zahlen erreichen, die Ergebnisse erfüllt werden und wir den Umsatz gesteigert haben.“ Die nächste sagt: „Erfolg ist, wenn alle in ihrer Kraft waren, wenn wir einander wahrgenommen haben, die Zahlen auch gut waren, aber auf jeden Fall sollen wir uns entwickelt haben.“ Der nächste sagt vielleicht: „Was Erfolg ist, kann ich so gar nicht sagen. Denn manchmal ist das, was ich als Erfolg begreife, auf lange Sicht kein Erfolg, weil ich etwas übersehen habe. Oder etwas, was ich als Misserfolg gesehen habe, stellt sich als Erfolg heraus, weil ich genau an der Stelle das gelernt habe, was mich weitergebracht hat.“ Dann merkst du, wenn so ein Begriff wie Erfolg an der Wand steht, hast du noch gar keine emotionale Gemeinsamkeit etabliert, weil noch nicht mal in der Deutung, was sich dahinter verbirgt, eine Gemeinsamkeit herrscht. Also gehen wir einen anderen Weg. Wir gehen den Weg über die Narrative: Welche Geschichten erzählst du eigentlich und welche Werte werden darin deutlich?

TR: Schön. Dann komme ich nämlich genau an dem Punkt auch zu dem Manko von vielen Leitbildern, wo ja auch immer gerne Werte zitiert werden, die dann so wenig mit Leben gefüllt werden. Das heißt, im Prinzip wäre es eigentlich sehr viel sinnvoller, wenn die Organisation ihre Geschichten erzählt und sagt: „Was macht uns eigentlich gerade aus und wo stehen wir?“ Und wenn es nicht optimal ist, wenn man sich was anderes vorstellt: „Wo könnten wir hin?“ Das geht so ein bisschen in die Richtung, was ich da auf dem Poster hinter Dir sehe – dass es so verschiedene Meme gibt, die kenne ich jetzt nur aus Spiral Dynamics. Aber vielleicht sagst du erst mal was dazu.

MP: Genau, wir gehen über die Narrative rein, lassen die Menschen Geschichten erzählen: „Wie erlebst du denn hier die Wirklichkeit? Welche Werte, was ist dir wertvoll, was ist für dich wichtig? Wie siehst du das hier reflektiert?“ Oft werden Werte als Absoluta gesehen. Ich war neulich mal bei einem Polizeipräsidium, die hatten unter anderem Fairness als Wert. Da sagten natürlich einige in der Organisation: „Fair? Nein, überhaupt nicht. Vor drei Jahren wurde der Klaus befördert, aber der Guido nicht. Das war unfair.“ Das heißt, da werden irgendwelche Geschichten drangeklebt, die so einen Wert infrage stellen oder diskreditieren. Oder dann zu so einem Wertezynismus führen. „Hier sollen wir fair sein? Das stimmt doch gar nicht.“ Wenn du dann aber sagst: „Wir wollen fair sein. Ein Wert ist nicht etwas, was wir haben, sondern etwas, an dem wir uns in Konfliktsituationen emotional ausrichten wollen, auf einer Skala von eins bis zehn, wie fair sind wir denn hier?“ Zehn bedeutet „total fair“, Null bedeutet: „Gibt es hier gar nicht“. Dann sagt einer: „Vier.“ Der nächste sagt dann: „Eine Sechs.“ „Was wäre denn der nächste Schritt, damit du sagst, dass wir bei einer Fünf sind?“ Typische Coachingfrage. Und den anderen: „Was hat dich davon zurückgehalten, bei Fairness zu sagen, dass ihr da bei einer Sieben liegt?“ – „Ja, weil das und das und das ist.“ Dann kannst du sagen: „Okay, da können wir an dem Wert arbeiten. Da ist noch eine Dissonanz. Da ist unser Gefühl noch nicht so, dass wir sagen würden: ‚Boah, da fühle ich Fairness total. Aber auf einer Sechs fühle ich sie schon, nur nicht auf einer Sieben.‘“ Und so kannst du Werte reinbringen, dass sie wirklich zur Verhaltensausrichtung werden und wirklich den Menschen helfen, ihre Organisation zu gestalten. Und eben nicht diese Begriffe an der Wand sind, an die man sich zu halten hat. Oder wo man sagt: „Das ist doch hier alles Zynismus, die verarschen uns doch nur.“ Sondern du sagst: „Nein, die Werte sind ein Wunsch, wo wir uns hin entwickeln und eine Hilfe, das besprechbar zu machen. Fairness ist unser Thema, da wollen wir den Aufmerksamkeitsfokus drauflegen, da wollen wir mehr drüber reden und das wollen wir entwickeln. Und selbst wenn wir in deiner Einschätzung bei einer Vier sind, ist es egal, es ist unser Wert, in dem Sinne, dass wir dran arbeiten. Und dann wollen wir halt eine Fünf haben.“ Oft wird es aber so hingestellt: „Das sind unsere Werte.“ Als hätten wir die, als wären das so Besitztümer. Die stellt man dann so aus. Beschreibt die dann und dann fragst du dreimal nach und da ist ja immer nichts hinter. Wenn du aber sagst, dass das handlungsweisende Ausrichtungen sind, die wir mehr in den Aufmerksamkeitsfokus nehmen, dann passiert was ganz anderes in einer Organisation.

TR: Braucht es dafür dann immer die Leitungsebene, die diese Werte definiert? Oder arbeitest du auch unabhängig von denen mit einzelnen Teams, wo dann vielleicht gar nicht der Chef der Organisation sitzt, sondern mit kleineren Positionen?

MP: Da bist du genau an einem anderen Punkt. Das ist: Mit welcher Haltung willst du die Werte leben? Und manche sagen halt: „Wir sind hier die väterlichen Figuren. Wir setzen uns zwei Tage irgendwo in ein schönes Hotel und dann kommen wir mit den fünf Zetteln zurück, wo die Werte draufstehen.“ Ich habe auch erlebt, dass einer sagt: „Heute beschließen wir die Werte, dann drucken wir die auf Poster und dann haben sich alle dran zu halten.“ Und du denkst so: „Nein, so geht das nicht.“ Wenn du sagst, dass eine Organisation die Summe ihrer Kommunikation ist, dann musst du sinnvollerweise die Mitglieder der Organisation irgendwie dran beteiligen. Wir sagen deshalb: „Nimm einen Querschnitt deiner Organisation, 30, 40 oder 50 Leute und bring die miteinander ins Gespräch, was die wirklich erleben. Was ist ihre gelebte Wirklichkeit hier? Und was ist ihnen wertvoll an dem Zusammensein?“ Da denken manche: „Oh, das ist aber gefährlich, wenn ich das fragen würde.“ Auch ein Zeichen. Oder zu sagen: „Natürlich habt ihr Werte, natürlich habt ihr etwas, was euch im Miteinander wertvoll ist.“ Und das ist viel einfacher zu identifizieren, wenn du quer durch die Organisation fragst. Und was dabei rauskommt, ist auch viel anschlussfähiger. Klar hast du am Ende vielleicht ein paar Wörter, aber die Wörter sind ja gar nicht so entscheidend. Selbst wenn das Wort Erfolg ist, dann ist ja die Frage: „Was verbinden wir damit? Was ist das Narrativ, was ist die Geschichte, was ist die Story, die in unseren Herzen lebt, die wir damit assoziieren?“ Was sind die emotionalen Referenzerlebnisse, wo wir sagen: „Ah, ja, genau, fair. Das haben wir da und da gemacht. Da sind wir zwar noch nicht am Ende, aber an den Stellen haben wir das gemacht. Wir achten mehr darauf, dass Frauen in Führung kommen. Und das tun wir wirklich. Und an den und den und den Stellen tun wir das.“ Dann würdest du sagen: „Ja, okay, dann habt ihr einen Wert.“ Und das ist ein anderer Prozess. Und gleichzeitig ist es in Organisationen so, dass es manchmal Top-down geht oder schon Werte gibt. Die entstehen unterschiedlich. Du kannst aber immer damit arbeiten. Denn in einem gewissen Sinne ist gar nicht so wichtig, wie der Begriff heißt, sondern wichtig ist eher, wie der sich in emotionalen Gemeinsamkeiten verankert. Und welche Geschichten du dran knüpfen kannst und wie das auch verhaltensweisend sein kann. Und das hat dann eben auch mit der Haltung zu tun. Du hast erwähnt, das wirkt so ähnlich wie Spiral Dynamics. Es gibt verschiedene Entwicklungspsychologen, die sich damit beschäftigt haben, wie wir im konstruktivistischem Sinne die Welt verstehen und dieses Verstehen sich verändert. Von diesem moralischen Ich-Begriff hin zu einem rationalistischerem Verständnis kommen, wo wir sehr sachlich sagen: „Ja, die Werte sollen hier Leistung, Fortschritt, Kompetenz und Kundenorientierung sein.“ Und dann in eine eigenbestimmtere Haltung kommen, wo wir sagen: „Innovation, Stärkenorientierung – das ist uns wichtig, das kommt in den Fokus.“ Und dann irgendwann in so eine multiperspektivischere Sicht kommen. Und die Forscher, auf die wir uns dabei beziehen, sind eher Robert Kegan und Jane Loevinger, die das sehr gut beschrieben haben, wie sich die Art, wie wir sinngebend mit Phänomenen umgehen, verändert. Die haben das schön aufgeschlüsselt und damit auch einen entwicklungsorientierteren Blick auf Werte geöffnet. Die nehmen wir als Grundlage.

TR: Sinngebend heißt dann, dass praktisch deine Art mit den anderen Menschen unterwegs zu sein, dir hilft, deinen Sinn zu leben?

MP: Du kannst ja immer sehen, wenn du mit irgendwas emotional in Spannung bist, nehmen wir das Homeoffice als Beispiel, „Nein, das kann ich nicht machen, dann sitzen die alle nur auf dem Sofa“, du merkst, du hast eine Spannung, deine Sinngebung sagt dir: „Das ist nicht gut, wenn die zu Hause im Homeoffice sind. Dann arbeiten die nicht. Ich muss die kontrollieren. Wie soll denn das sonst gehen?“ Und das ist sozusagen das Gefäß, in dem du deine Wahrheit verarbeiten kannst. So hältst du es und so viel kannst du halten. Dann merkst du so: „Oh, die Phänomene, die mir begegnen sind aber größer als das Gefäß, mit dem ich diese Wirklichkeit erklären kann. Plötzlich ist Corona und die sitzen alle zu Hause. „Meine Haltung hat noch gar keine Antwort darauf, wie ich sinngebend damit umgehen kann.“ Und dann merkst du irgendwann: „Oh, ich könnte ja mal Vertrauen geben. Ich gucke mir das mal an. Ich halte meine Spannung aus. Ich komme zu neuen Erklärungen und erkenne: Ach, schau mal. 80 Prozent der Leute gehen ja super damit um. Ich kann denen Vertrauen geben. Die sind ja eigenverantwortlich. Ist ja krass. Hätte ich nie gedacht.“ Und das ist so typisch ein Zeichen für vertikale Entwicklung, wo dein Gefäß größer wird. Dass das, was du als sinnvoll, logisch und richtig betrachtet hast, größer geworden ist. Ein anderes Beispiel ist die Umweltthematik, wo man in den 80er- oder 70er-Jahren gesagt hat: „Umweltschutz schadet der Wirtschaft. Ist doch logisch, wenn wir investieren müssen in Mülltrennung, Ökostrom –  ist doch alles viel zu teuer. Das macht die Wirtschaft kaputt. Das lassen wir lieber.“ Und du denkst heute: „Sag mal, ging es noch“, weil du heute merkst, was das für eine beschränkte Sinngebung war. Das heißt, du gehst mit den gleichen Phänomenen heute ganz anders um. Diese Art, diese Haltungserweiterung, dass du mehr halten kannst, mehr Paradoxien, mehr Gegenteile, mehr Widersprüche in dir halten kannst, diese Erweiterung wird in der Entwicklungspsychologie ganz gut beschrieben. Und das ist die Grundlage für unser Modell der Haltung. Das hilft dir auch, den Umgang mit Werten besser zu verstehen. Warum eben manche das moralisch machen, manche eben sehr rationalistisch, die Appellwerte haben wollen. Nach dem Motto: „Damit spornen wir die Leute an. Die schreiben wir an eine Wand und dann arbeiten die ein bisschen schneller.“ Hin zu: Was macht das eigentlich mit unserem inneren Erleben? Aber um dahin zu kommen, Werte als etwas Kulturgestaltendes zu nehmen, was mit deinem inneren Erleben zu tun hat, musst du ja auch mit deinem inneren Erleben in Kontakt sein. Das ist ja auch ein kleiner Lernweg.

TR: Ja, oder ein großer Lernweg, oder? Das ist ja wahrscheinlich der Klassiker schlechthin, wo ich schon immer denke: „Wo fange ich jetzt an, wenn wir mir jemand sagt: ‚Emotionen lassen wir hier mal ganz raus, wir bleiben auf der Sachebene.‘“ Wo ich dann auch denke: „Hm – geht das überhaupt?“ Weil ich ja weiß, das braucht ein bisschen Zeit, bis sich jemand öffnet und Vertrauen fasst, mal ins Innere zu gucken. Im Prinzip sagst du das aber auch. Es geht eigentlich gar nicht ohne das innere Erleben, ohne den Kontakt zu sich selbst.

MP: Naja, der Weg ist kurz, weil er ja nur 30 Zentimeter lang ist, vom Kopf bis zum Herz. Das ist an sich eine ziemlich kurze Strecke. Aber ich sage immer, wenn einer sagt, dass er das mit den Gefühlen rauslassen will: „Dann nimmst du das Buch des Lebens und schaust nur auf jede vierte Seite. Und drei überschlägst du immer.“ Als würde das nicht vorkommen. Aber das sind ja Phänomene, die real da sind. Natürlich haben Menschen permanent Gefühle. Und natürlich ist auch die Art, wie wir Sprache konstruieren, eine Antwort auf das, was wir so in den Primärgefühlen wahrnehmen und irgendwie in Harmonie bringen wollen. Und wenn du das ausklammerst, dann schließt du ganz viel Weisheit weg, auch bei dir selbst, in der Erkenntnis von dir selber. Und irgendwann kommst du dazu, dass du sagst: „Nein, ich will die Phänomene des Lebens gar nicht weghaben, ich will sie wahrnehmen, um mit ihnen umgehen zu können.“ Das ist auch so ein typisches Zeichen für die Erweiterung der Haltung, dass du sagst: „Ich werde mir meiner Gedanken und Gefühle bewusster und nehme die in ihrer Gesamtheit wahr. Und tue nicht mehr so, als würden die nicht dazugehören.“ Das ist ja ganz absurd. Du hast einen inneren Erlebensraum, in dem die stattfinden und du tust so, als würde der nicht zu dir gehören. So: „Das ist irgendwie nicht von mir.“ Oder wie manche Leute sagen: „Ach, nein, so nach innen gucken, das ist dann alles so kompliziert. Ich bin da lieber sachlich.“ Okay, das ist eben auch ein Zeichen für eine Haltung. Die sich aber irgendwann erweitert, weil du eben in der Haltung viele Phänomene nicht mehr sinnvoll erklären kannst. Auch Dir selbst nicht.

TR: Ja, das leitet über zur nächsten Frage, die ich hätte: Wenn du mit Menschen arbeitest, ist es dir auch schon öfters passiert, dass du merkst, die Haltung zwischen Privatleben und Berufsleben divergiert extrem? So, dass man sich irgendwie fragt: „Sind das zwei verschiedene Persönlichkeiten, die da unterwegs sind?“

MP: Ja, natürlich. Wir alle sind viele Ichs, die sich nicht kennen. Und wenn du beobachtest, in welchen Stimmlagen die auftauchen, wie man zum Beispiel redet, wenn man ganz aufgeregt ist, und ein ander Mal in einer anderen Stimme ist, einer anderen Köperhaltung, dann ist im Prinzip alles anders. Und manchmal kannst du in Minuten sehen, wie die Ich-Identitäten wechseln. Dazwischen sind wie so Scheuklappen, dass man das selbst nicht sehen kann. Und natürlich sind viele im Firmenkontext in einer etwas kindlicheren Haltung unterwegs. Du lässt dir Dinge zumuten und mutest anderen Leuten Dinge zu, die du privat niemals machen würdest. Du gehst in so eine Unmündigkeit rein und gleichzeitig ist diese Wahrnehmung, diese Inkohärenz auch die Wachstumsspannung, die du brauchst nd die heute in Organisationen viel stärker gespürt wird. Wenn du mal überlegst, wie das vor 20 oder 30 Jahren war, was man sich da hat zumuten lassen. Und heute sagt man: „Nein, wenn ich mich so als ganzen Menschen sehe und die Art, wie ich gerne kommuniziere, dann mag ich das hier nicht. Dann spiele ich hier mal nicht mit und gehe woanders hin.“ Weil du eben ganzer sein möchtest oder weil diese Inkohärenzen stärker gespürt werden. Nehmen wir mal als Extrembeispiel Eichmann, der gesagt hat, dass er vollkommen disconnectet bei dem war, was er getan hat. Er war halt nur ein Apparatschik. Da musst du gar nicht so weit gehen. du kannst da ganz viele Beispiele finden, wo wir in System drin sind, und glauben, in diesen Systemen funktionieren zu müssen und uns deswegen nicht als Gesamtheit erleben.

TR: Ist das auch ein Thema, was die jüngeren Generationen betrifft? Das höre ich immer wieder gerade von älteren Führungskräften, die sagen: „Mit den jungen kann man ja nicht mehr so, wie man mit uns früher konnte. Irgendwie muss man da ganz anders reden.“ Dass die einen anderen und vielleicht ganzheitlicheren Anspruch haben, sich nicht mehr so anders darzustellen im betrieblichen Kontext als im privaten?

MP: Ja, natürlich, weil die einen anderen Raum der Besprechbarkeiten zur Verfügung haben. Die können einfacher über ihr Leben, ihre inneren Welten und all diese Dinge reden. Jetzt auch nicht alle – es ist nicht so, dass alle so sind. Aber wenn wir dann ja ehrlich sind, dann sagen die: „Vier Tage die Woche reichen mir. Ich möchte eine gute Beziehung haben, möchte meinen Sport machen, möchte meine Freunde haben. Ich möchte ein Leben leben, wo ich gesamtheitlich sein kann. Das mit dem Dienstwagen und einer 60-Stunden-Woche interessiert mich nicht. Wenn du mir sagst, dass ich mehr Geld kriege: Ich habe gesehen, wo das endet. Nein, das will ich nicht.“ Das ist ja eine Kränkung für unsere Generation, die gelernt hat: „Hau rein, mach ganz viel, dann hast du ein Vermögen und dann hast du ein gutes Leben.“ Dann hast du aber festgestellt, dass du ganz viele Leute kennst, die vermögend sind, die sich aber nicht mit sich selbst genügend befasst haben, dass sie integer mit sich sind. Sondern trotz der Immobilien und trotz der Dinge weiter in Spannung mit sich sind. Da glaube ich, dass die jüngere Generation mit ihrer Sprachfähigkeit und ihrer Wahrnehmungsfähigkeit von den eigenen Gedanken und Gefühlen viel weiter ist als ich zu meiner Zeit. Würde ich mal so sagen.

TR: Klappt das dann auch mit deinem Ansatz, dass du über die Haltung und über die Werte eine Annäherung schaffst? Dass es sich nicht so in Unverständnis und vielleicht sogar Abschottung äußert?

MP: Es gibt so Schätze, die Menschen in sich tragen. Referenzerfahrungen, wo sie sich so richtig gespürt haben, wo sie wirklich leben, wo sie da sind in ihrem Körper, vielleicht in der Natur, vielleicht mit ihren Kindern und Menschen, die sie lieben. Das sind so Qualitäten, wo sie sagen: „An sich ist das mein Sein, an sich ist das mein Zuhause, an sich bin ich das. Bin ich mehr das.“ Das kann sich jetzt unterschiedlich anfühlen oder sich unterschiedliche Geschichten daran binden. Aber es ist oft dieses Gefühl: Etwas in mir möchte wachsen und präsenter sein. Mehr in Kontakt mit der Gegenwart. Wenn du das aktivierst und dafür Raum gibst, wenn sich Räume öffnen und Leute sich darüber austauschen können, dann haben die alle schon ihre inneren Wachstumsimpulse in sich. Die haben auch alle eine Idee, wie es sein könnte. Es geht meistens nur darum, den Raum dafür zu schaffen, die Besprechbarkeit zu schaffen und das zuzulassen, dass diese Dinge thematisiert werden. Über die Werte kannst du das herrlich gut machen. Dann sagen die oft nach solchen Werte-Workshops: „So haben wir noch nie miteinander geredet. Ich habe diese Seite von dir noch nie gesehen.“ Es öffente sich ein emotionaler Raum und daraus entsteht wieder was Neues. Daraus entwickeln sich Organisationen. Was dann genau passiert, das weiß man nie so genau. Das hängt immer davon ab, wo die gerade sind, was sie zum Thema haben und auch wie mit Macht umgegangen wird, also wie viel Raum gegeben wird oder ob sie da kleingehalten werden. Aber ich glaube, es wird auch immer spürbar in der Gesellschaft, in allen Organisationen, dass wir da in Bewegung sind, mit uns selbst, mit der Gesellschaft und mit der Welt.

TR: Ja, und dann gibt es da auch keine Limits. Ich bin ja viel im Öffentlichen Dienst unterwegs. Wo ja sehr viel auf das System geschoben wird, so Mauern, wo man sich nicht entwickeln kann. In diese Richtung. Wo ich gerade denke, dass man in solchen eher starren Organisationen vielleicht gerade so arbeiten kann, weil es ja eigentlich immer das direkte Umfeld umfasst. Das heißt, ich bin ja nie dem System ausgeliefert, sondern ich bin den Menschen ausgeliefert, die das System stützen.

MP: Genau. Was ist eigentlich das System? Zum einen ist es von uns gemacht, zum anderen besteht es aus der Art, wie wir kommunizieren. Das heißt, wie ein System organisiert ist, hat damit zu tun, wie Kommunikation organisiert ist. Wer darf wem was sagen, wer darf wem was zumuten und wer darf wie antworten? Wenn du dann sagst, dass du die Hierarchien flacher machst, dass du neue agile Prozesse machst, dann veränderst du die Kommunikation und es kommen andere Wahrheiten in Bewegung. – auch im Öffentlichen Dienst. Weil wir ja auch merken, dass ganz viele Organisationen in ihrem Grundansatz aus dem Militär kommen und aus den Feudalgesellschaften. Und irgendwie replizieren wir das, also wir gehen in Gehorsamsstrukturen und in so feudale Modelle rein. Wo du dann sagst: „Oh, die Obersten, die verdienen tausendmal so viel. Die haben ja so viel Verantwortung. Das sind die Könige. Und darunter ist dann der Adel, die haben hundertmal so viel. Ja, okay, die haben ja so hart gearbeitet und sind da oben. Da drunter sind dann die Angestellten. Und die Leibeigenen sind im Ausland irgendwo und machen das ganz schwere und unangenehme Zeug.“ Und das hört sich jetzt so ein bisschen karikaturhaft an, aber wenn du mal genau hinguckst, dann ist das durchaus noch in uns drin, so zu denken und das so zu akzeptieren. Wo wir so weit weg sind von demokratischen Organisationen, in denen der CEO gewählt wird. Das gibt es ja alles. Und trotzdem imitieren wir noch das andere. Interessante ist ja auch, wenn du Menschen fragst: „Seid ihr Demokraten, findet ihr das eine gute Form?“ – „Ja, super.“ – „Wie demokratisch seid ihr denn bei der Organisation von Arbeit?“ – „Nein, da machen wir das nicht. Da muss einer das Sagen haben.“ Diese Reflexe ins Autoritäre, in Verkindlichungen, die sind schon stark und gleichzeitig sind sie auch in Auflösung begriffen.

TR: Ja, das macht Hoffnung. Wobei der ein oder andere vielleicht jetzt Sorge kriegt. Immer wenn ich etwas auflöst, gibt es ja Menschen, die sagen: „Um Gottes Willen. Dann wissen wir ja nicht, was danach kommt.“

MP: Ich sage mal so, das ist eine offene Geschichte. Man kann aus der Entwicklungspsychologie zumindest sagen, welche Räume sich dann eröffnen, wenn du entwicklungsorientierte Organisationen formst. Was passieren kann. Das ist aber auch nicht mathematisch, weil du die Haltung der Menschen nicht von außen verändern kannst. Du kannst aber Räume anbieten, wo sie sich entfalten können. Wenn du sagst: „Schau mal, im Privaten bist du doch auch viel offener in deiner Kommunikation. Diese Fähigkeit könntest du auf diesen Kontext transferieren, wenn du weniger Angst hast, wenn mit Macht anders umgegangen wird.“ Dann entfaltet sich das auch meist. Das Gleiche gilt für Werte, die du ja auch nicht verordnen kannst. Aber du kannst Erlebnisräume aufmachen, wo die authentisch erlebt werden können. Da sind wir natürlich als Gesellschaft unterwegs mit all den regressiven Erscheinungen, die auch dazugehören. Generell bin ich schon großer Optimist. Schau dir Deutschland an. Wo waren wir vor 80 Jahren, wo vor 60, wo vor 40? Mit all den Problemen, die noch vor uns liegen, sehe ich trotzdem eine wachsende Fähigkeit, sich damit zu befassen und vielleicht nicht nur zu sagen: „Mich betrifft das ja nicht mehr.“ Sondern zu sagen: „Nein, wir sind Menschen, wir sind schlau und haben auch letztendlich alles Knowhow, was wir brauchen. Uns fehlt vielleicht manchmal das Wertebewusstsein oder die richtige Haltung, da draufzuschauen. Aber auch das ist durchaus etwas, was wir entwickeln könnten.“

TR: Schön. Wenn das jetzt jemand mit dir entwickeln möchte, lieber Martin, wie nimmt der am besten Kontakt zu dir auf?

MP: Wir haben ja „Haltung entscheidet“ als Buch und „Werte wirken“ als Buch. Wir bieten verschiedene Fortbildungen  dazu an. Wir machen viele Prozesse in Unternehmen. Einmal, dass wir sagen: „Wollt ihr das Thema Haltung bei euch reinbringen? Wollt ihr eine Bewegung starten oder eine Kulturexpedition?“ – wie wir das nennen. Oder wir machen auch Werteworkshops, Wertepositionierungen, wenn jemand nach innen und außen sein Unternehmen an Werten ausrichten will. Und eben dieses emotionale Bewusstsein in der Organisation stärken. Dann gehen wir in Organisationen und formen dann auch deren Kommunikation, bis hin zum Design, Webseite und die ganzen kommunikativen Maßnahmen. So dass das zum einen die Agenturarbeit ist, zum anderen aber auch die Organisationsentwicklungsarbeit und die strategische Positionierung. Das ist vielleicht das Besondere an SHORT CUTS hier aus Berlin, dass wir diese drei Elemente, Design, Strategie und Kultur zusammendenken. Auf unserer Website short-cuts.de findet man alles und wir haben jetzt auch eine Community haltung-erweitern.de, zu der wir Menschen einladen, die sich mit diesem Thema befassen. Weil ich glaube, dass es ein Thema sein wird, das in der Führung immer präsenter sein wird. Weil es so eine unbekannte Dimension ist, nach der Entwicklung der eigenen Haltung zu schauen und wie wir die Logiken wechseln können, wenn wir merken, dass wir mit den alten Logiken die Probleme von morgen nicht lösen können. Wenn wir neue Logiken entwickeln wollen, brauchen wir die Selbstentwicklung von Führung – und damit befassen wir uns in der Community. Da sammeln wir Erfahrungen, berichten über Forschung auf diesem Gebiet – man nennt es auch vertikale Entwicklung – und stellen Bücher, Podcasts und Videos zum Thema vor. Wenn wir den Blick auf die Politik richten und was da so los ist, und du schaust dir das an unter diesem Spiegel, dann wird sehr viel deutlich, was es eigentlich braucht und wie wir vielleicht einen anderen Blick auf Führung entwickeln können, um handlungsfähiger zu sein für die Herausforderungen, die noch vor uns stehen. Und die sind ja nicht ganz ohne.

TR: Nein, wahrlich nicht. Ich danke dir erstmal, Martin, dass du so locker über das dann für mich doch sehr komplexe Thema Werte gesprochen hast und über Haltung. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass wir uns noch mal sprechen, wenn du magst.

MP: Sehr gerne.

TR: Super, dass du hier warst, lieber Martin. Lieben Dank.

MP: Sehr gerne, danke, Tanja.