Die relativierende-individualistische Haltung

Die fünfte Phase der Ich-Entwicklung: Es kommt drauf an...

Es gibt mehr als den einen richtigen Weg oder die eine richtige Sicht. 

Vielleicht sind ihnen neue Phänomene wie Bodypositivity, Work-Life-Balance, Willkommenskultur und Familienarbeitszeit in den letzten Jahren häufiger begegnet. All diese Phänomene sind relativierende Ansätze. Es kommt drauf an, was will Mensch eigentlich?

Bodypositivity oder: Anders ist das neue Schön. Eine Frau muss nicht mehr bestimmte Maße erfüllen oder eine bestimmte Konfektionsgröße tragen, sie soll sich wohl fühlen in ihrem Körper. Es kommt drauf an, wie es ihr am besten gefällt. Solange sie zufrieden ist, kann sie jeden möglichen Körperbau haben. Jeder Mensch kann ein positives Körpergefühl haben. Schönheit hat viele Facetten und es gibt nicht mehr nur ein Idealbild.

Work-Life-Balancedie zeitgenössische Richtlinie für ein schönes Leben. Die Arbeit muss nicht mehr bloß die Familie ernähren. Sie muss zum Lebensmodell passen, das Wert darauf legt, mit Familie und Freizeit in Balance zu sein. Jeder arbeitet so viel, wie es passt und angenehm ist. Das Leben eines Workaholics ist überholt und ein Ausgleich zwischen Privatem und Beruflichem erstrebenswert. Vertrauensarbeitszeit ist ein Resultat dieses Wertewandels. Mitarbeiter kommen und gehen, wann sie wollen, damit sie ihr Privatleben besser koordinieren können. Gemeinsame Ziele sorgen für genug Vertrauen, um solche Vertrauensarbeitszeiten zu ermöglichen. Wie viel jemand arbeitet, kommt ganz auf seine Bedürfnisse an. Will er eine 80-Stunden Woche haben, oder lieber 4 Tage die Woche arbeiten? Er würde dann weniger verdienen, hätte aber mehr Freizeit. Es kommt auf seine persönlichen Prioritäten an. Danach richtet sich die Arbeit. Der Job wird dem Leben angepasst und nicht mehr das Leben dem Job.

Willkommenskultur beschreibt die positive, willkommen heißende Haltung Geflüchteten gegenüber. Wertschätzung gegenüber Migranten ist wichtig. Sie sollen sich willkommen und wohl fühlen und sich so positiv gestimmt integrieren. Wo kommen sie her? Was ist ihr kultureller Hintergrund? Welche Konflikte könnten dadurch entstehen? Wie vermeiden wir diese? Welche Stärken und Fähigkeiten bringen sie mit? Wie können wir diese integrieren? Verschiedenste Aspekte werden berücksichtigt. Unsere Fähigkeit, empathisch zu handeln hilft uns, die Situation des Geflüchteten nachzuempfinden. Alles Bekannte hinter sich lassend, macht sich jemand auf in ein unbekanntes Land. Was hilft ihm am meisten in dieser unsicheren Situation? Er wird in der neuen Heimat willkommen geheißen und kann seine individuellen Bedürfnisse einbringen. Wie soll sein Leben in dieser neuen Heimat aussehen? Es kommt darauf an, was er sich erträumt.  

Familienarbeitszeit eröffnet neue Familien- und Erziehungskonzepte. Wenn eine Familie Nachwuchs bekommt, muss es nicht mehr allein die Mutter sein, die sich um das Kind kümmert. Vaterschaftsurlaub und Familienarbeitszeiten machen viele neue Erziehungsmodelle möglich. Will die Mutter überhaupt in Elternzeit gehen oder will sie sich auf ihre Karriere fokussieren? Will der Vater vielleicht lieber zu Hause bleiben und sich um die Kinder kümmern? Oder arbeiten beide weiter, reduzieren jedoch die Wochenstunden in den ersten Jahren der Kindererziehung? Es kommt darauf an, was die Erziehenden sich als optimales Erziehungsmodell kreieren. 

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In all diesen Beispielen geht es um mehr Balance. Wir sind in Kontakt mit unseren Gefühlen und können uns emotional einlassen. Unser emotionales Erleben ist ein wichtiges Kriterium. Auch die Arbeit wird zum Erlebnisraum. Wir wollen uns gut fühlen bei unserem Tun und Balance fühlt sich gut an.
Unser Denken und unsere Wahrnehmung der Welt werden relativierender. In Balance sein und sich gut fühlen heißt für jeden etwas anderes. Wir erkennen die Vielheit und Komplexität der Dinge. Es gibt nicht mehr die eine einzig richtige Sicht, denn es kommt auf den Blickwinkel an. 

Es gibt viele Wahrheiten und wir sind viele Ichs

Die Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners. Denn "die Wahrheit" gibt es nicht. Es gibt viele Wahrheiten aus unterschiedlichen Perspektiven. Nichts ist, wie es scheint. Wenn wir unseren Blick auf die Welt verändern, verändern wir die Welt. Wir tragen nicht bloß eine Sicht in uns. Wir haben viele Ansichten, viele Meinungen, viele Ichs. Wir sind nicht eine Person, wir sind viele. Wir haben ein Unterbewusstsein und ein Wachbewusstsein. Unsere Erlebnisse und Erziehung prägen uns. Wir sind eine Collage all unserer Eindrücke - eine Collage voller Werte, Wiedersprüche, Fakten, Gefühlen, Emotionen und Glaubenssetzen. Unsere Eltern, Kultur und Werte beeinflussen unseren Blick auf die Welt. Wenn wir diese Einflüsse besser zu verstehen, beginnen wir dadurch uns selbst besser zu verstehen.

In der relativierend-individualistischen Haltung sind wir uns der eigenen Subjektivität bewusst. Es gibt viele Perspektiven auf die Welt und jede kann hinterfragt werden, auch unsere eigene. Wir erkennen die eigenen Widersprüche und sehen unseren Schatten.

Wo kommen meine Motivationen und Glaubenssätze her? Wie viel von meinen Gedanken bin ich und wie viel ist angelernt? Was fühle ich? Warum fühle ich so? Welche emotionale Einstellung habe ich?

Redewendungen und Sprachbilder der relativierend-individualistischen Haltung

"Wahrheit ist die Erfindung eines Lügners."

"Ratschläge sind auch Schläge."

"Jeder meint, dass seine Wirklichkeit die wirkliche Wirklichkeit ist."

"Wenn du denkst du kannst etwas, kannst du es. Und wenn du denkst, du kannst es nicht, hast du auch recht."

"Realität ist ein Wort, dass man in Anführungszeichen setzen sollte."

"Das Leben findet im Kopf statt. Es kommt drauf an, wie du es siehst."

Vielleicht kennen sie das Gefühl von Zwiegespaltenheit. Ich habe mich neulich in folgenden Zwiespalt befunden: Mein Bruder und ich wollten nach England reisen, um einen Freund zu seinem Geburtstag zu besuchen. Aufgrund unseres verstärkten Umweltbewusstseins wollten wir möglichst klimafreundlich reisen. Fliegen war dementsprechend keine Option. Mein idealistischer Persönlichkeitsanteil bestand darauf, so umweltfreundlich wie möglich zu reisen. Der Zug für ca. 150 € pro Strecke gefiel dem sparsamen Persönlichkeitsanteil dennoch nicht ansatzweise so gut, wie der mir angebotene Billigflug für ca. 15 € pro Strecke. Eine weitere Option war der Bus für ca. 80 €, doch dieser brauchte von Berlin bis London 24 Stunden, während der Zug bloß 5 Stunden und der Flieger nur eine Stunde brauchte.
Umweltbewusstsein, Kosten, Zeitaufwand und Komfort galt es, gegeneinander abzuwägen. Wir entschieden uns für den Zug hin, und den Bus zurück. Der Zug war sehr komfortabel. Glücklich über unsere Entscheidung vergaß ich den Preis schnell. Der Rückweg im Bus über Belgien und in der Nacht zurück nach Deutschland war weniger angenehm. Spätestens als ich um 3 Uhr nachts von einer Polizistin geweckt wurde, die meinen Pass sehen wollte, kam ein wenig Reue auf. Ein Teil von mir hätte so gerne gestern einfach den Flieger genommen und läge jetzt schon im eigenen Bett zu Hause.
All diese Widersprüche in mir sind ein Teil von mir. Die verschiedenen Persönlichkeitsanteile begleiteten mich auf der ganzen Reise. Sie in ihrer Vielheit zu erkennen und zu verstehen, hilft mir meine Emotionen zu verstehen. Warum sagt ein Teil von mir "Fliegen wäre die beste Option"? Weil ein Teil von mir den Komfort genießt. Warum meldet sich ein Teil in mir, der sagt "Fliegen sollte ich auf keinen Fall, der Zug wäre die beste Option"? Weil mir durch gesellschaftliche Prägung und mein soziales Umfeld Umweltbewusstsein und Umweltschutz sehr wichtig sind. Warum bin ich letztendlich doch im Bus und nicht im Zug gelandet auf der Rückfahrt? Weil mein Sparmodus ansprang, sobald ich alle Kosten zusammenrechnete und Sparsamkeit am Ende auch eine Rolle spielte. 

"Self-Questioning" - wir beginnen uns zu hinterfragen

Was mache ich hier eigentlich? Lebe ich das Leben, das ich wirklich leben will? Wenn nicht, wieso nicht? Wie kann ich das ändern? Was will ich? Die bekannte "Midlife-Crisis" ist ein Phänomen des Hinterfragens des eigenen Tuns. Wir verändern unseren Blick und entwickeln neue Perspektiven. Das kann dazu führen, dass wir Altes ändern wollen. Wir stellen uns unseren Gefühlen, schauen den eigenen Schatten an. Diesen eigenen Schatten zu sehen, kann erstmal zu einer Krise führen. Die Erkenntnis, dass wir Widersprüche in uns tragen und uns damit selbst im Weg stehen kann kurzzeitig zum Schock, der sogenannten "Midlife-Crisis" führen. Die Frage nach dem Sinn kommt auf. Welchen Sinn erfülle ich mit meiner Arbeit? Was will ich Sinnvolles zur Gemeinschaft beitragen?

In der relativierend-individualistischen Haltung wünschen wir uns ein Leben, das unseren Werten entspricht. Empathisches Miteinander ist uns wichtig und wir wollen nicht mehr bloß arbeiten, um Ziele zu erreichen. Wir wollen einen tieferen Sinn verfolgen. Dieser Gedankenumschwung wird durch das vermehrte Integrieren von psychologischen Denkansätzen unterstützt. Die Auseinandersetzung mit dem Selbst, die früher noch verpönt war, ist heute in modernen Unternehmen Standard. Coaching und Persönlichkeitsentwicklung werden gefördert und so können neue persönliche Erkenntnisse integriert werden. Wir sehen uns selbst mit unserem Schatten und die anderen mit dem ihren. Wir sind verwoben miteinander. Gemeinsam können wir die Welt in Balance bringen. Wenn wir gemeinsame Ziele und Werte haben, kommen wir vom "Ich" zum "Wir". 

Wir integrieren psychologische Denkansätze heute in vielen Lebensbereichen, in denen das vor einigen Jahrzehnten noch undenkbar gewesen wäre. Schulbildung ist beispielsweise mittlerweile auf unterschiedlichste Weisen zu erlangen. Von Waldorfschulen bis hin zu Online-Fern-Unis sind unzählige Konzepte verfügbar. Wie will ich lernen? Auf was für eine Schule möchte ich mein Kind schicken? Soll es ein klassisches Gymnasium oder eine Montessorischule sein? Gehe ich auf eine klassische Uni oder bringe ich mir alles, was ich lernen will, selbst übers Internet bei?

Das größtmögliche Wir kreieren

In der relativierend-individualistischen Haltung sind wir frei von äußerem Status. Viel wichtiger ist uns der private innere Erfahrungsraum. Zeitsouveränität und Werteparität hat einen hohen Stellenwert. Wir wollen gute Grundstimmung. Dafür sollen alle Aspekte berücksichtigt werden, denn das ist die Basis für ein schönes Miteinander.
Wir sind vielseitig interessiert und öffnen uns auch für unkonventionelle Formate und Selbsterfahrung. Chancengleichheit für alle und der Schutz von Minderheiten hilft uns, uns zu verbinden. Wir wollen das größtmögliche Wir schaffen und alle Aspekte mit einbringen, um uns alle zu verbinden und gemeinsam zu schaffen. Wir sehen uns in dieser Haltung als Verbinder, Weltverbesserer und haben das Bedürfnis, einen sinnvollen Beitrag zu leisten. Wir wollen gemeinsame Werte formulieren und diese leben.

Unsere Fähigkeit, Situationen von vielen Seiten aus zu betrachten und ihre Komplexität zu begreifen, zeigt sich in unserer Sprache. Das "Wir" und der Beitrag, den wir leisten wollen, steht im Vordergrund.

Glaubenssätze der relativierend-individualistischen Haltung

„Regeln sind pragmatische Vereinbarungen auf Zeit und das Spielfeld, auf das sich alle gemeinsam geeinigt haben.“ 

„Mein Hauptproblem ist, dass ich manchmal an mir eine Form von Selbstgerechtigkeit beobachte: wenn ich andere beobachte und sich dabei eine Wertung einschleicht.“ 

„Wenn ich an meine Grenzen stoße, dann schaue ich, wo der Schmerzpunkt liegt und entschiede, ob es sich vielleicht lohnt, den auszuhalten, um weiter zu machen.“

„Wenn ich kritisiert werde, freue ich mich über die Möglichkeit zu lernen. Früher war das anders, da wollte ich von allen anerkannt werden. Wenn ich mich heute gegen Kritik wehre, dann ist das ein Zeichen für alte Wunden.“ 

„Mein Gewissen plagt mich, wenn ich von meinen Mitarbeitern mehr verlange als ich mich selbst zutraue, das aber nicht offen zugebe.“

Von der Vielheit zur fließenden Verbindung - alles kommt in Fluss

Der Zwiespalt, die vielen "Ichs" werden anerkannt und integriert. Auch geht es bei allen Sätzen um ein schönes Miteinander, für das Mensch sich eventuell sogar aufopfert. Übermäßiges Mitgefühl für alle und der ständige Versuch alles zu integrieren kann anstrengend werden. Durch das verstärkte Wahrnehmen unserer Gefühle können wir uns in der Vielheit und Komplexität der Welt verlieren. Wir erkennen die Vielheit der Welt, können sie aber noch nicht verknüpfen.
Der Wunsch nach innerer Autonomie kommt auf und bringt uns in die nächste Haltung, die systemisch-autonome Haltung. Die Relativierung ist die Vorbereitung auf das Systemische Denken. Wir sehen verschiedenste Ansätze, doch sie sind noch starr. Sobald wir die systemisch-autonome Haltung einnehmen, sehen wir die Bewegung in allem. Nichts ist mehr starr, alles ist verbunden, in Bewegung und verändert sich ständig. 

Haltung entscheidet über Zukunft 

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