Wie Werte wirken

Warum wir in unseren Organisationen eine konsequente und ehrliche Auseinandersetzung mit Werten brauchen.

Gastbeitrag von Dr. Andreas Zeuch

In den letzten Jahren stolpere ich regelmäßig über den Begriff der werteorientierten Führung. Und zwar ohne weitere Hinweise, um welche Werte es sich bei einer Organisation konkret handelt. Ich kann es mittlerweile nicht mehr hören, die Absurdität dieses Begriffs ist bodenlos und ich frage mich, wieso das Offensichtliche meistens übersehen wird. Mit diesem Beitrag versuche ich zu klären, warum wir in unseren Organisationen vor allem im Kontext neuer Arbeitsweisen (New Work, Unternehmensdemokratie, Augenhöhe etc.) eine konsequente und ehrliche Auseinandersetzung mit Werten brauchen. Noch mehr als in der alten Arbeitswelt.

Erst das Fressen und dann die Moral?

Was soll eigentlich das ganze Gefasel von Werten in der aktuellen Debatte um die Zukunft der Arbeit? Ist das nicht prä-esoterisches Geschwurbel? Wozu sollte sich eine Organisation Gedanken über Ihre Werte machen, oder genauer: Deren Belegschaft, denn die Organisation an sich kann ja schlecht reflektieren und mit sich selbst diskutieren. Ist das nicht ein post-postmoderner Luxus, den sich bestenfalls irgendwelche Luxushersteller leisten können, um mit einer scheinheiligen Werte-Philosophie die hohle Marke mit Pseudoinhalten zu füllen und so ihren monetären Wert zu steigern? 

Brecht hatte es doch schon trefflich auf den Punkt gebracht: Erst das Fressen, dann die Moral. Das passt auch bestens zur Maslowschen Bedürfnispyramide. Sprich: Unsere Werte sind einfach nur ein Überbau, die dünne Spitze dieser Pyramide, die wir uns wenn überhaupt nur am Ende des Tages leisten können, nachdem wir die wesentlichen Dinge erledigt haben. Tatsächlich? Die Bedürfnispyramide sagt klar, dass die physischen Bedürfnisse grundlegender sind, als unsere Werte, Moral, Lebensphilosophie, Spiritualität und dergleichen mehr. Ich für meinen Teil halte das für unfassbaren Nonsens. Denn wir werden täglich eines Besseren belehrt:

Wenn die physischen Bedürfnisse so viel wichtiger sind und erst erfüllt werden MÜSSEN, bevor wir uns dem Luxus von Werten etc. hingeben können - wie erklärt man dann Hungerstreik bis zum Tod, Selbstmordattentäter, Kamikaze Piloten und Menschen wie Anne Frank, die selbst als Jugendliche nicht vor dem NS Regime eingeknickt ist, sondern lieber starb, als Ihre Werte zu verraten? Komisch, oder? Da scheinen Brecht und Maslow irgendwie etwas übersehen zu haben.

 

Der Wert von Werten

Ganz offensichtlich gibt es Menschen aus unterschiedlichsten Kulturkreisen (sic!), denen ihre eigene Loyalität ihren Werten gegenüber wichtiger ist, als ihr eigenes Leben. Jetzt könnten wir hingehen und das flugs pathologisieren, was insbesondere bei fanatischen und zweifelsfrei indoktrinierten Selbstmordattentätern fast schon ein Selbstläufer ist. Die sind halt verzweifelt und haben morbide Züge oder sind vielleicht prä-psychotisch von sich selbst dissoziiert (als diplomierter, ehemaliger Musiktherapeut weiß ich ziemlich genau, worüber ich gerade schreibe). Mich überzeugt das nicht, da dieses Phänomen transkulturell und zeitlos ist. Wir können es rund um den Globus durch Jahrtausende dokumentierter Menschheitsgeschichte  beobachten. Werte wirken - und zwar machtvoll über physiologische Grundbedürfnisse hinaus.

Bei genaueren Hinsehen ist es vielmehr so: Unsere (un)bewussten Werte sind unser innerer Antrieb, unser Motiv, um etwas zu tun oder zu lassen, uns von etwas weg- oder darauf zuzubewegen. Und genau das ist der Wert von Werten. Wir kommen gar nicht umhin, uns an ihnen zu orientieren. Irgendwas ist jedem wichtig, der oder die nicht in tiefdepressiver Agonie gelähmt ist. Wessenhalben der eingangs erwähnte Begriff der werteorientierten Führung völliger Nonsens ist. Nicht nur dm oder Alnatura sind werteorientiert, sondern auch Nestlé und Rheinmetall. Im übrigen waren auch Nazis werteorientiert. Allesamt nur eben mit völlig unterschiedlichen, oft konträren Werten. 

Somit haben Werte neben der motivationalen Funktion noch einen wichtigen Wert: Sie unterscheiden Menschen und Organisationen voneinander. Am deutlichsten wird das bei Parteien, die ganz offensichtlich für völlig unterschiedliche Werte einstehen. Es ist aber auch bei Unternehmen leicht zu erkennen. Wenn VW auf Dieselgate mit einer neuen „Vision“ vom weltweit größten Elektromobil-Hersteller reagiert, ist das Lichtjahre von den Werten von Toyota entfernt, obwohl beide Unternehmen in derselben Branche tätig sind und allesamt irgendwelche Blechbüchsen mit jeweils vier Rädern und einem Motor bauen. 

 

Werte in der neuen Arbeitswelt

Bis hierhin sollte schon klar geworden sein, warum es selbst in der “Old Work” Welt wichtig ist, sich mit den eigenen Werten zu befassen. Wo dort aber oftmals der Leitwert noch in der Wirtschaftlichkeit und damit der Gewinnmaximierung bestand und somit das berühmte “Why” meist ziemlich klar war, verhält es sich in der neuen Arbeitswelt deutlich anders. Denn nun ist die Gewinnerzielung eher ein Kollateralnutzen, der natürlich auch eintreten muss, damit sich ein Unternehmen gesund entwickeln kann, der aber niemals Selbstzweck ist. Aber welche Werte stehen im Zentrum, wenn es nicht mehr der Gewinn und dessen Maximierung ist? 

Der bis dato fast universelle unternehmerische Wert von Geld und Gewinn löst sich allmählich auf und ist nur noch eine Folge der konsequenten Umsetzung anderer Werte (der oben erwähnte Kollateralnutzen). Deshalb bedarf es einer viel intensiveren Auseinandersetzung mit den Werten der einzelnen Akteure in einem Unternehmen und den jeweiligen Schnittmengen. Um was genau geht es einem Unternehmen mit ihren Produkten und/oder Dienstleistungen? Klar muss am Ende des Tages mindestens eine schwarze Null rauskommen, besser noch ein Gewinn. Aber wenn das nicht mehr das goldene Kalb ist, um das die Geschäftsführung herumtanzt, was ist es dann? 

Mit einem klaren, authentischen und vor allem konsistent gelebten Werteset bietet das Unternehmen neben der internen Klärung der Motivation auch eine Anschlussstelle, um passende Kunden und Geschäftspartner zu finden. Auch wenn Apple mit Sicherheit wenig mit New Work im Sinne von Frithjof Bergmann, dem Erfinder von New Work, zu tun hat und noch viel weniger ein demokratisches Unternehmen ist, so illustriert die Firma aktuell bestens, wie sich über Werte passende Kunden finden lassen, die sich gerne binden. Einer der zentralen Werte, für die Apple einsteht, ist Privatsphäre. Dementsprechend richten sie ihre Geschäftsmodelle aus, die gänzlich andere sind, als die von Google. Zudem verzichtet Apple wissentlich auf mindestens hunderte von Millionen Dollar zusätzlichen jährlichen Umsatz, weil sie die Daten ihrer Kunden nicht wie Google bis zum letzten Bit auswerten und auf Vorhersagemärkten meistbietend verkaufen. Das ist übrigens für mich der zentrale Grund, bei Apple zu bleiben und nicht zurückzuwechseln. Denn ich bin keineswegs Fanboy von Steve Job´s Vermächtnis, sondern ärgere mich oft genug über irgendeinen hippen Applequatsch wie Butterfly-Tastaturen, die nach wenigen Monaten klemmen und regelmäßig gereinigt werden müssen. Aber der Respekt vor der Privatsphäre (wie jüngst der Coup des Apple-Logins) lassen mich über diese Nervereien großzügig hinwegsehen, während ich über Googles “Don’t be evil” nur schallend lachen kann. 

 

Passung zu Grundwerten neuer Arbeitswelten

Mit der weitflächigen Transformation der Arbeit in Richtung von mehr Partizipation, Sinnkopplung (“Purpose”) und Gemeinwohl sind zugleich fundamental andere, grundlegende Kernwerte gesetzt, als in der Old Work. Das früher noch oftmals gültige, von Milton Friedman stammende Paradigma “The Business of Business is Business” wird zunehmend hinterfragt. Diese Veränderung geht mit anderen Kernwerten einher, über die hinaus sich jedes Unternehmen mit dazu passenden weiteren, individuellen Werten ausdifferenziert. 

In der Unternehmensdemokratie sind, anlehnend an die gesellschaftliche Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität und damit Gemeinwohl wichtige Grundwerte. Wenn sich also ein Unternehmen demokratisieren will, kann es nicht Gewinnmaximierung als  wichtigstes Ziel beibehalten. Denn dann müsste sich das Gemeinwohl unterordnen. Damit wäre zum Beispiel eine logische Konsequenz, Abwässer in Gemeingüter wie öffentliche Gewässer zu entsorgen und diesen Teil der Produktionskosten zu externalisieren; oder maximal billig in Bangladesch zu produzieren; oder jeden Zulieferer so weit wie möglich im Preis zu drücken und so weiter und so fort.

Insofern führt eine Transformation als tiefgreifende Veränderung der Gestalt eines Unternehmens - so wie die Metamorphose der Raupe zum Schmetterling - wahrscheinlich auch zu einer entsprechenden Veränderung der unternehmerischen Wertewelt. Sollten bislang schon klare und authentische Werte herausgearbeitet und gelebt worden sein, wird es zumindest nötig, diese auf den Prüfstand zu stellen. 

Herzliche Grüße

Andreas Zeuch

 

Nachtrag der Redaktion: Andreas Zeuch war auch bei uns im Podcast zu Gast zum Thema: Unternehmensdemokratie, ein Weg zur Transformation unserer Arbeitswelt und Gesellschaft. Hören Sie gern rein!