Haltung entscheidet: Perspektiven auf Lernen und Lehren

Warum Tools und digitale Ausstattung allein nicht reichen, um unser Bildungssystem "auf das nächste Level" zu heben – Gastbeitrag von Miriam Lerch

 

Veränderungen im Bildungssystem

Unser Bildungssystem befindet sich nicht erst durch die Corona-Krise in einem Umbruch. Das spüren wir an allen Ecken und Enden. In diesen Zeiten wird Digitalisierung oft als Antwort auf notwendige Veränderungen und zeitgemäßes Lernen gesehen, doch es braucht noch mehr. Tools und digitale Ausstattung allein werden nicht reichen, um unser Bildungssystem "auf das nächste Level" zu heben. Denn das, was bei allen Veränderungsbemühungen oft übersehen wird, ist die Veränderung im Innen, die dem Außen folgen muss.

  • Wir erweitern Lernsettings durch digitale Endgeräte und passen dennoch die Freiheitsgrade für die NutzerInnen nicht an.
  • Wir führen neue Prüfungsformate ein und stoßen an Grenzen bei der Bewertung von Gruppenleistungen, weil das System auf die Bewertung der Einzelnen ausgelegt ist.
  • Wir bauen neue Schulgebäude mit Kollaborationsräumen und verkleinerten Klassenzimmern und wundern uns, dass der Unterricht dennoch traditionell stattfindet.

Was uns entgeht, ist der Blick auf die unsichtbaren Wirkfaktoren der inneren Haltungen. Martin Permantiers Modell der sechs Haltungen hilft uns zu verstehen, welche Bedürfnisse, welche Annahmen und Überzeugungen den Handlungen von Menschen zu Grunde liegen. Das Modell beruht auf fundierten wissenschaftlichen Erkenntnissen – insbesondere auf dem Konzept der Ich-Entwicklung von Jane Loevinger.

Das Modell der sechs Haltungen hilft uns zu begreifen, welche unterschiedlichen Haltungen (oder „Annahmen, Überzeugungen und Werte“) in hitzigen Dialogen rund ums Lernen und Lehren aufeinanderprallen und warum viele Veränderungsbemühungen im Bildungssystem scheitern. Unterschiedliche Haltungen sind wie unterschiedliche „Fenster“ durch die die Beteiligten ihre Welt betrachten. Die Ausblicke sind sehr unterschiedlich. Es entstehen Konflikte.

Abbildung 1: unterschiedliche Haltungen zum Schullockdown im Frühjahr 2021

In Kooperation mit Martin Permantier habe ich das bekannte Poster „Haltung entscheidet“ weiterentwickelt und für den Bildungsbereich angepasst. 

Das neue Poster „Haltung entscheidet – Perspektiven auf Lernen und Lehren“ reflektiert die inneren Haltungen mit dem Fokus auf Lern- und Lehrprozesse. Es will die Augen öffnen für die verschiedenen Blickwinkel mit denen auf Lernen und Lehren geschaut werden kann. In das erweiterte Poster sind Lerntheorien, Kulturentwicklungsmodelle und wissenschaftliche Erkenntnisse zur Lernmotivation eingeflossen.

Das Poster will zum Reflektieren und zum gemeinsamen Dialog zwischen Lehrenden und Lernenden anregen – ob in der Schule, in der Ausbildung oder in der beruflichen Weiterbildung.  Das Poster ist als PDF-Download erhältlich und auch als Druckexemplar verfügbar. 

Was verstehen wir in den einzelnen Haltungen unter Lernen und Lehren?

 
Lernen und Lehren in der selbstorientiert-impulsiven Haltung

Die selbstorientiert-impulsive Haltung versteht Lernen als Zwang und Druckmittel. In dieser Haltung sind neurologische Lernprozesse stark gehemmt. Intrinsisch motiviertes Lernen ist nicht möglich. Lernen dient der Anpassung und dem Vermeiden von Sanktionen. Es herrscht ein starker Konkurrenz-Druck unter den Lernenden: „Du oder ich“. Die Lernmotivation entsteht aus dem Druck zum Überleben oder dem Sichbeugen unter dem vorhandenen Druck/Zwang.

Lehrende sprechen in dieser Haltung Drohungen aus und/oder fordern strikte Unterwerfung ein. Eine Abweichung von gesetzten Regeln wird nicht geduldet. Willkürliches Sanktionieren ist an der Tagesordnung.

 

Lernen und Lehren in der gemeinschaftsbestimmt-konformistischen Haltung

In der gemeinschaftsbestimmt-konformistischen Haltung ermöglicht Lernen die Zugehörigkeit zur Gruppe (Lerngemeinschaft). Eigenes Denken und Handeln ist in dieser Haltung noch überwiegend obsolet. Es gilt, was die Gruppe sagt oder der Lehrende „predigt“. Ein Anderssein oder ein Regelbruch wird entweder von der Gruppe oder vom Lehrenden sanktioniert. Lernmotivation erwächst in dieser Haltung aus dem Druck zur Anpassung und Befolgung der gemeinsamen Regeln und Normen. Zudem herrscht starker Konkurrenzdruck zu anderen Gruppen oder Gemeinschaften.

 

Lernen und Lehren in der rational-funktionalen Haltung

Die rationalistisch-funktionale Haltung versteht Lernen als „Aneignung von Wissen“ und „Erwerb von Fachkompetenzen“. In dieser Haltung nimmt sich der Lernende – anders als in früheren Haltungen - als Individuum in der Lerngemeinschaft wahr und bildet Cliquen mit ihm/ihr ähnlichen Personen. Die Lernmotivation erwächst aus dem Wunsch, besser zu sein als die anderen. Leistungsvergleich und Leistungsbewertung stehen im Zentrum dieser Haltung.

Lehrende verstehen sich als ExpertInnen und FaktenvermittlerInnen. Sie messen und bewerten individuelle Leistungen der Lernenden an Hand von rationalen, gesellschaftlich fest gelegten Normen.

 

Lernen und Lehren in der eigenbestimmt-souveränen Haltung

Lernende mit eigenbestimmt-souveräner Haltung übernehmen selbstbestimmt Verantwortung für ihr Lernen und gestalten es. Die Lernmotivation erwächst aus dem Wunsch, ein persönliches Ziel zu erreichen bzw. erfolgreich zu sein. Lernen wird verstanden als Möglichkeit der eigenen Kompetenzerweiterung und Selbstoptimierung.

Lehrenden gelingt in dieser Haltung der Blick auf das Individuum. Sie fördern die Kompetenzentwicklung der Lernenden und stellen Wissen aus individueller Erfahrung und Theorie bereit.

 

Lernen und Lehren in der relativierend-individualistischen Haltung

In der relativierend-individualistischen Haltung kennen Lernende ihre persönlichen Stärken und Schwächen und nehmen diese an. Sie setzen sich mit ihrer eigenen Gefühlswelt auseinander und berücksichtigen andere Haltungen und Meinungen. In dieser Haltung wird Kooperation zwischen Lernenden möglich und als wertvoll empfunden. Die Lernmotivation entsteht aus der Erweiterung von Erfahrungsräumen und Perspektiven.

Lehrende mit relativierend-individualistischer Haltung kennen sich und ihren Erfahrungsraum. Sie sehen sich nicht als „allwissend“ an. In ihrer Rolle agieren sie als EntwicklungshelferIn und LernbegleiterIn für die Gruppe.

 

Lernen und Lehren in der systemisch-autonomen Haltung

Die systemisch-autonome Haltung lässt Lernende co-kreativ und transformativ in einer Gemeinschaft lernen – mit tiefem Verständnis für die Anderen. Er/Sie beobachtet sich selbst und erkennt seine/ihre Vielheit an. Lernende in dieser Haltung handeln tolerant und sind auf das Gemeinwohl bedacht. Die Lernmotivation erwächst aus dem Wunsch nach Sinnorientierung und Bewusstseinserweiterung.

Lehrende in dieser Haltung agieren zuhörend und unterstützend, sie nehmen sich selbst stark zurück. Sie schaffen Entwicklungsräume zur individuellen Potentialentfaltung und Gelegenheiten zum kollaborativen, gemeinwohlorientierten Lernen.

Abbildung 2: Unterschiedliche Haltungen zum Lernen

 

Abbildung 3: Unterschiedliche Haltungen zum Lehren

Poster & Infoabend zu Perspektiven auf Lernen und Lehren

Zur Premiere des neuen Posters gestalteten Martin Permantier und ich einen Online-Infoabend im Februar 2022.
Dabei stellten wir das Modell der sechs Haltungen mit Bezug zu Lernen und Lehren vor - im Detail und im Austausch mit den Teilnehmenden.
Hören Sie gern in die Aufzeichnung rein! 

Online-Fortbildung 
Lernen und Organisationsentwicklung

New Learning im Kontext der Haltungen 
Für Lehrende, TrainerInnen und Bildungsverantwortliche habe ich eine Fortbildungsreihe  konzipiert, die das Modell der 6 Haltungen im Kontext von New Learning verstehen lernen oder Wissen dazu vertiefen wollen. Die fünfteilige Workshopreihe liefert wertvolle Impulse und Perspektiven, die dich in deiner Selbstentwicklung als Lehrende/r unterstützen und Organisationsentwicklungsprozesse initiieren können.

Diese Reihe (insgesamt 12h, jeweils mittwochs) startet am 16. März 2022. Im Herbst biete ich die Workshopreihe nochmals an, dann jeweils dienstags – mit Start am 08. November 2022. Alle Infos zur Online-Fortbildung >>

Weitere Informationen zum neuen Poster "Perspektiven auf Lernen und Lehren" mit Bestellmöglichkeit.