Teilzeit, New Work & Resilienz

Warum das alles eine Frage der Haltung ist. 

Beitrag zur Blogparade Teilzeit von @BXsuitcase

Was Teilzeit mit New Work und Resilienz zu tun hat und warum das alles eine Frage der Haltung ist. 

Wenn wir ernsthaft von New Work sprechen wollen und damit nicht nur "New Office" meinen (wie es Catharina Bruns so prägnant formuliert hat), dann müssen wir uns näher mit einem Arbeitszeitmodell beschäftigen, dass wir heute noch "Teilzeit" nennen. Wer daran zweifelt, dass das Thema New Work relevant ist, lese zunächst gerne hier weiter

Denn: New Work und Vollzeit, das passt einfach nicht zusammen. Frithjof Bergmann definierte New Work als Dreiklang von 1/3 Erwerbsarbeit, 1/3 Selbstversorgung und 1/3 Arbeit, die mensch „wirklich, wirklich tun will“. Eine ähnliche Definition sieht so aus: Erwerbsarbeit, Care & Reproduktion, Ehrenamt & persönliche Entwicklung incl. Fortbildung. 

Vergleichen wir das mit dem alten Modell: Es gibt eine Ehe, eine erwachsene Person sorgt in Vollzeit (oder mehr) für den Unterhalt der ganzen Familie, der/die zweite Erwachsene für Haus, Garten, Kinder, Eltern und betätigt sich vielleicht noch ehrenamtlich. Fortbildung und persönliche Entwicklung sind keine wesentlichen Bestandteile des Lebens - zumindest nicht außerhalb der Arbeitszeit. Dieses Modell funktioniert bekanntermaßen für immer weniger Menschen und dennoch ist Vollzeit immer noch "normal".  Der Effekt: Alle, für die dieses Modell nicht funktioniert, rödeln durchs Leben oder verzichten auf einen wesentlichen Aspekt des Lebens, z.B. auf Kinder. 

Vollzeitarbeit ist nach meiner langjährigen Beobachtung im Grunde keine dauerhafte tragfähige Konstruktion für Menschen, die über ihre engagierte Erwerbsarbeit hinaus Interessen bzw. Verpflichtungen haben und/oder für Menschen, die kreativ, interaktiv und womöglich auch noch innovativ gesellschaftliches Leben gestalten wollen. 

Wenn wir ernsthaft davon sprechen wollen, dass Menschen lebenslang dazu- und umlernen sollen, dann können wir entweder unterstellen, dass sie das in ihrer Arbeitszeit tun können oder realistischerweise davon ausgehen, dass das zumindest zum Teil nicht in ihrer Arbeitszeit möglich ist.
Wenn wir in innovativen Projekten nicht nur Menschen haben wollen, die ihre Teilnahme als Arbeitszeit verbuchen können oder deren Einkommen nicht direkt an die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden gekoppelt ist, dann ist Vollzeitarbeit kein Modell mit Zukunft. Weil wir so nur eine bestimmte Klientel an Bord und damit nicht genügend Diversität in der Projektgruppe haben und wirklich wirklich innovative Lösungen entwickeln zu können. 
Last but not least: Wenn wir ernsthaft Gleichberechtigung verwirklichen wollen, dann müssen wir die Selbstverständlichkeit von Vollzeit hinter uns lassen – und das gilt für alle Beteiligten. Denken wir bei Gleichberechtigung nicht nur an Frau und Mann, sondern schliessen wir Menschen mit Behinderung ein, wird das noch deutlicher, weil hier meist einen höheren Zeitaufwand für Selbstversorgung und Mobilität anfällt. 

Meine individuelle Lösung

Vollzeitnahe Teilzeit aka neue Vollzeit mit 32 Wochenstunden (lebe ich selbst seit 1995, mein Mann seit 2000). Seit 2012 beide in einer 5-Tage-Woche. 
Wie es dazu kam: In den ersten beiden Jobs, in denen ich unterwegs war, teilten sich drei Menschen zwei Planstellen. Was zur Folge hatte, dass wir als Team die sehr breit gefächerten Kompetenzanforderungen viel besser abdecken konnten. Damals gab´s tatsächlich einen freien Tag pro Woche, im 2. Job als Landesgeschäftsführerin eines Jugendverbandes dafür aber reichlich Termine am Wochenende. Das war der Zeitpunkt, an dem mein Mann als gefragter IT-Fachmann beschloss, seine Arbeitszeit auf 32 Wochenstunden bei 4 Arbeitstagen zu reduzieren. Was er dank der ihm eigenen Entschlossenheit auch durchsetzte und seitdem über zwei Jobwechsel hinweg auch lebt. 2005 startet ich dann in die Selbständigkeit, seit 2016 kombiniere ich die Selbständigkeit mit einer Teilzeitstelle, zunächst mit 16 Wochenstunden, mittlerweile mit 24 Wochenstunden. Damit habe ich mir die Freiheit bewahrt, Projekte umsetzen zu können, die ich über meinen Aktionsradius als Angestellte hinaus spannend finde. 

Aus der Praxis 

Ein Paradebeispiel für Zusammenarbeit in Teilzeit: Drei Menschen in Teilzeit, ein gemeinsames Projekt: Alle arbeiten zu unterschiedlichen Zeiten und an unterschiedlichen Tagen (nicht). Das war uns bewusst und so haben wir von Anfang an offen kommuniziert, wer wann arbeitet und damit auch geklärt, bis wann er/sie ein Zwischenergebnis braucht, um dann wiederum so Feedback geben zu können, dass die nächste Person damit weiterarbeiten kann. Entsprechend konnte jedeR von uns die eigenen Prioritäten so sortieren, dass die Person, die den nächsten Schritt machen musste, lückenlos anschließen konnte und wir keine Zeit verloren.
Resumée: Es läuft, wenn wir selbstorganisiert arbeiten können, wenn wir mitdenken und miteinander kommunizieren und nicht davon ausgehen, dass die anderen "immer", also mindestens 9 to 5 verfügbar sind. Was schlicht eine Frage der Haltung ist. Dazu an dieser Stelle nur eine Infografik, wer mehr zum Thema Zusammenarbeit & Haltung erfahren will, lese hier weiter

Die Vorteile von Teilzeitarbeit

Was hab ich davon, Teilzeit zu arbeiten – außer weniger Geld am Ende des Monats? Das Leben ist weniger hektisch und auslaugend. Es bleibt Zeit für Gesundheitspflege und Training (mittlerweile sind wir beide in unserem 5. Lebensjahrzehnt, da empfiehlt sich fortlaufende Wartung sehr), Reflexion, Ehrenamt und Familie. Es gibt einen Puffer für Zwischenfälle aller Art – und diese Tatsache war uns schon mehrfach sehr hilfreich. In meinem Fall in der Vor-Corona-Zeit ist auch Zeit für das Pendeln zwischen Berlin und Regensburg (damals arbeitete ich ca 50%, im Moment ganz überwiegend remote – wer mehr dazu wissen will, hier entlang bitte). Seit Mitte März pflege ich remote eine extralange Mittagspause mit schnell frisch gekochtem Mittagessen und einer Runde im Grünen. Was mich oft mit einer neuen Inspiration in die zweite Hälfte des Arbeitstages starten lässt. 

Kommen wir von der persönlichen Situation zur gesamtgesellschaftlichen Lage: Wir müssen vielfach erkennen, dass wir uns nicht darauf verlassen können, dass Politik und Verwaltung die Dinge für uns so regeln, dass eine gute Zukunft gesichert ist. Wir müssen uns also höchstpersönlich engagieren, wenn die Welt zukunftsfähiger werden soll. Vielen Vollzeitarbeitenden fehlt dazu schlicht Zeit & Energie. Das ist für mich sehr nachvollziehbar, sehr bedauerlich und im Grunde eine schlechte Nachricht für uns alle. 

Drei besonders interessante Aspekte will ich im Zusammenhang mit dem Thema Teilzeit gern noch anreißen: 

  1. Ein Gedankenexperiment zum "Fachkräftemangel": Wenn alle Stellen grundsätzlich in Teilzeit ausgeschrieben würden, was würde passieren? Welche Menschen würden sich bewerben, die sich auf keine Vollzeit-Stellen bewerben wollen und damit überhaupt erst sichtbar werden? 
    Mir fallen da sofort einige sehr erfahrene, kompetente und engagierte Personen ein, für die Vollzeit schlicht keine Option mehr ist. Wenn ich überlege, auf wieviele Ausschreibungen sich Menschen aus meinem Umfeld (incl. mir selbst) nicht beworben haben, weil starr Vollzeit gefordert wurde (ja, auch auf Nachfrage) ... 
  2. Führen in Teilzeit ist ganz besonders eine Frage der Haltung: Lege ich Wert auf Mikromanagement oder auf Diversity, auf eine Atmosphäre von "für jedeN das jeweils Förderliche". Führe ich mit Werten und Vertrauen oder brauche ich permanente Kontrolle über alles, was läuft. Mehr dazu hier
  3. Jobsharing als Möglichkeit, sich eine verantwortungsvolle Position zu teilen – mit interessanten Nebeneffekten. Dazu hat das Wissenschaftszentrum Berlin in einer brandneuen Studie ein sehr interessantes Ergebnis zutage gefördert: "87 Prozent der Befragten berichteten, dass die Arbeit im Jobsharing die Bewältigung der neuen Komplexität und Unsicherheit während der Corona-Krise „viel leichter“ oder „eher leichter“ gemacht habe". Mehr zum Thema Jobsharing gibt´s übrigens hier.

Kurz und knapp: Mehr Menschen können partizipieren, ihre Kompetenzen und Talente in Unternehmen einbringen. Mehr Menschen können Gleichberechtigung und Vereinbarkeit leben. Mehr Menschen können Lifelong Learning umsetzen und mehr Menschen können mit ihren Ideen und Fähigkeiten unser aller Zukunft konstruktiv gestalten. Die beiden letzten Punkte lassen sich natürlich auch im Job realisieren, in vielen Fällen ist es aber gut, wenn dazu Zeit außerhalb der Erwerbsarbeit zur Verfügung steht.